Theorie und Praxis

In den vergangenen Tagen fanden drei Seminare für die Mitarbeiter von IMCARES statt.

Zu Beginn bekam jeder zwei Zettel. Auf den einen sollten die Mitarbeiter ihre Stärken schreiben, auf den anderen Themen und Fragen, die sie näher interessieren.

 

IMG_2256Das erste Seminar diente somit der Orientierung. Wo steht jeder? Welche Themen sind für die Arbeit im Projekt Ankur relevant? Welche Begrifflichkeiten sollten vereinheitlicht und geklärt werden?

Meine Planungen wurden dadurch ziemlich über den Haufen geworfen. So musste ich mir schnell einen Plan B erstellen, um den Anforderungen gerecht zu werden. Nach kurzer Ratlosigkeit meinerseits, wo ich nun am besten ansetzen sollte, kamen mir glücklicherweise doch einige Ideen.

 

Im zweiten Seminar sammelten wir zunächst alle Arten von gesundheitlichen Einschränkungen, Defiziten und Behinderungen.

Im Anschluss sollten die Mitarbeiter sämtliche Spiele nennen, die sie kennen. Gruppen-, Paar- und Einzelspiele, Spiele für drinnen und draußen, Actionspiele, ruhige Spiele, etc. Wir sammelten eine ganze Reihe an Möglichkeiten, und ich war überrascht wie viele Spiele auf der ganzen Welt bekannt sind. „Reise nach Jerusalem“ ist hier unter dem Namen „musical chair“ bekannt. Die Mitarbeiter fanden unsere deutsche Bezeichnung sehr witzig, aber auch viel zu lang!

 

IMG_2252Nachdem nun beide Listen fertig waren, wurden die Spiele verschiedenen Fähigkeiten zugeordnet. So entstand eine Übersicht darüber, durch welches Spiel welche Fähigkeiten gefördert und Defizite ausgeglichen werden können. Natürlich wurden die Spiele von uns auf ihre Tauglichkeit getestet =)

 

Im zweiten Seminar befassten wir uns mit der Allgemeinen Unterteilung von Behinderung und deren korrekten Terminologien. Obwohl es eher theoretisch war, wurde das Seminar durch viele Beispiele meinerseits und von Seiten der Mitarbeiter lebendig gemacht. Viele Fragen wurden gestellt und viele Antworten konnten gegeben werden. Natürlich bleibt bei so viel Tiefgang so manche Frage offen. Deshalb ermutigte ich jeden, stets nach Antworten zu suchen und sich in die einzelnen Richtungen noch mehr zu vertiefen.

 
Die Mitarbeiter waren sehr dankbar für die Seminare und genossen auch die Auszeit von ihrer sonstigen Arbeit. Wir hatten sehr viel Spaß, haben viel gelacht, diskutiert und uns ausgetauscht. Die entstandenen Listen hängen nun im Büro und können jederzeit als Anregung dienen.

 

Für morgen, Montag und Dienstag sind drei weitere Veranstaltungen für Mütter und deren Kinder mit Behinderung geplant. Wenn neben diesen Ereignissen noch Platz ist, werden wir noch weitere Seminare durchführen. Die Zeit rennt allerdings schneller als es uns allen lieb ist. In einer Woche heißt es für mich schon Abschied nehmen.

 

Bis dahin wird jedoch jede Minute genutzt, um die Anregungen, Erfahrungen und Ideen aus den vergangenen Wochen optimal umzusetzen und für Ankur zu nutzen.

 

 

Rebekka

Kopfsache

Zu Beginn dieser neuen Woche haben wir drei weitere Kinder in Dharavi, dem größten Slum Asiens, erstmalig besucht.

Es ist jedes mal eine Herausforderung, die Wohnungen der Familien in den Slums ausfindig zu machen. Alle 11 Monate müssen sie die Wohnung verlassen und eine neue Behausung im Slum suchen. Wenn sie für eine bestimmte Zeit in einer gemieteten Hütte leben, fällt ihnen diese nämlich als Eigentum zu. Um das zu vermeiden, hat die Regierung diese Regelung erlassen. All zu oft sind die Familien kurz bevor wir sie wieder besuchten, umgezogen. Dann heißt es rein ins Getümmel und ab durch enge, dunkle Gassen. Alleine wäre ich hier hoffnungslos verloren. Es ist einfach unbegreiflich, wie so viele Menschen auf einem Fleck leben können. Die Wohnungen sind auf abenteuerliche Weise übereinander gestapelt und die oberen jeweils durch Leitern erreichbar. Hier muss man jeden Schritt bewusst tun, um nicht zu stolpern oder sich zu stoßen.

 

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Besonders eindrücklich war der Weg zu unserem letzten Hausbesuch. Der Schmale Mauersims führte an einer sumpfigen Müllhalde vorbei (Foto).

Als ich gerade in die Wohnung der Familie eintreten wollte kam plötzlich eine Krähe auf mich herab, packte kurz meinen Kopf mit ihren Krallen und flog weiter. So schnell es passierte konnte ich gar nicht sofort wahrnehmen, was das war. Ich erschrak total und sah diesen riesigen Vogel davon fliegen. Zum Glück blieb kein Denkmal auf meinem Kopf zurück. Doch auch in den Wohnungen muss man als großer Europäer stets seinen Kopf im Auge behalten. Da ist gerne mal ein unerwartetes Regalbrett am Hinterkopf, oder ein auf Hochtouren laufender Deckenventilator auf Stirnhöhe.

Die ganze Familie bewohnt gemeinsam eine “Wohnküche”. In der Ecke ist ein Bereich, um sich zu waschen. Für die Nacht werden Matten oder Decken zum Schlafen ausgebreitet. Das ganze Leben spielt sich in einem ca. fünf Quadratmeter großen Raum ab.

Nachdem wir in die Wohnung der letzten Familie eintraten, fanden wir zwei quirlige Jungs und einen sehr distanzierten Jungen vor. Die Mutter scheint sehr überfordert zu sein. Keiner weiß genau, was dem Sohn fehlt. Er ist hochgradig sturzgefährdet, was man ihm von der Stirn ablesen kann.
IMG_2079Von allen Kindern haben wir zunächst sämtliche Daten aufgenommen. Davon ausgehend werden wir erörtern, ob die Familie ins Ankoor Programm passt, oder doch einem anderen zugeordnet wird.

Ankur nimmt immer mehr Form an. Morgen ist ein Vorstandstreffen von IMCARES, in dem neben Ankoor auch die zukünftige Zusammenarbeit zwischen IMCARES und Seek and Care e.V. besprochen wird. Ich freue mich schon sehr auf diesen offiziellen Teil unserer Kooperation.

Rebekka

von Herausforderung bis Besinnung

Die vergangene Woche war von Herausforderung, Ermutigung, Bewegung, Freude und Besinnung geprägt.

 

Herausforderung:

Der Schlüssel zu den Kindern sind und bleiben die Eltern, bzw. Angehörigen. Wenn diese nicht mitziehen, ist unsere Arbeit sehr zäh. Das Programm Ankur ist auf die ganze Familie ausgerichtet. Der Wert des Kindes muss vermittelt werden und von allen Familienmitgliedern verinnerlicht werden. In der hinduistischen Kultur ist das jedoch gar nicht so leicht.

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Wird eine Behinderung, Krankheit oder sonstige Einschränkung beim Kind festgestellt, werden zuerst alle Hebel in Bewegung gesetzt, dem Kind zu helfen. Die Mittel, die zur Verfügung stehen werden mit viel Engagement genutzt. Sollte sich dann jedoch keine zeitnahe Besserung zeigen, sinkt die Hoffnung schnell und das Schicksal des Kindes wird hingenommen. Nun bekommt es kaum Aufmerksamkeit und wird lediglich mit dem nötigsten bedacht. Ignoranz, Unwissenheit und Armut sind die drei stärksten Gegner, die unserer Arbeit gegenüberstehen. Zu aller erst müssen wir die verlorene Hoffnung wieder aufflammen lassen. Denn es ist nie zu spät um die Rechte eines Kindes zu kämpfen und ihm ein maximal erfülltes, wertgeschätztes und sicheres Leben zu ermöglichen.

 

Ermutigung:

Bei einigen Eltern ist diese Hoffnung zurückgekehrt. Sie übernehmen (wieder) IMG_1938
Verantwortung für ihr Kind und lernen seinen Wert, sein Potential und seine Sehnsucht neu kennen. Diese Situationen ermutigen uns immer wieder aufs neue. Es gibt eine Chance und wir können mit und in den Familien etwas bewegen. Die maximale Selbstständigkeit des Kindes bedeutet vielleicht nicht, dass es einmal ohne jegliche Hilfe für sich sorgen kann. Aber es bedeutet, dass es im Alltag einbezogen wird und ein aktiver Teil der Familie und Gesellschaft wird. An Stelle auf dem Boden zu liegen, wo jeder auf ihn herab sieht und er kaum Einblick in die Alltagsaktivitäten der Mutter und Geschwister bekommt, kann John[1] nun in einem Rollstuhl sitzend beobachten und wird auf Augenhöhe betrachtet.

 

Bewegung:

Nicht nur körperlich sind wir in Bewegung, indem wir täglich weite Strecken zu Fuß, mit dem Taxi oder dem Zug in die Slums, in Rotlichtviertel oder zu Straßenrandbehausungen zurücklegen. Auch in der Projektentwicklung hat sich einiges getan. Wir konnten nun 8 Kinder im Pilotprojekt ausmachen, anhand derer wir die weitere Arbeit evaluieren, verbessern und weiterentwickeln wollen. Zudem steht bald ein Treffen mit Fachkräften an, die bereit sind ehrenamtlich ihr Wissen und ihre Fertigkeiten einzubringen.

 

Freude und Besinnung:

In all den Begegnungen, Besprechungen, Herausforderungen und IMG_1955Ermutigungen erleben wir vor allem viel Freude. Sowohl bei uns als auch bei den Kindern. Denn sie sind diejenigen, die manchmal als einzige die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben. Die Schmerzen, Verletzungen und Umstände, denen sie täglich ausgesetzt sind, scheinen ihre innere Freude noch nicht untergraben zu haben. Das Lächeln, das sie schenken erfreut und belehrt mich zugleich. Was ist schon mein verstauchter Fuß gegen diese Lebenssituationen. Wenn diese Kinder so eine Kraft entwickeln können und dabei noch so eine Freude ausstrahlen, wie viel mehr Kraft und Freude sollte dann ich in meinen kleinen Alltagsproblemen haben?

 

[1] Name geändert

 

 

Rebekka

Erste Eindrücke

Seit meiner Ankunft sind vier Tage vergangen. Nach all den Eindrücken, kommt es mir schon viel länger vor.

 

Bisher haben Timothy und ich viele Ideen, Erwartungen, Gedanken und Visionen ausgetauscht. Sowohl über das neuen Projekt Ankur, als auch bezüglich der Zusammenarbeit zwischen IMCARES und Seek and Care. Alles ist sehr spannend und aufregend, wenn ich mir das bisherige Ergebnis unserer Gespräche ansehe. Der Austausch mit Timothy ist sehr tiefgründig und von Transparenz und Vertrauen geprägt. Seine Visionen überraschen und begeistern mich immer wieder.

 

Neben dem Strukturaufbau und den fallenden Formalitäten war ich viel mit Meena unterwegs.

Meena arbeitet hauptsächlich bei Ankoor und erfasst momentan die Fallgeschichten einzelner Kinder. Gemeinsam mit Meena habe ich ein knapp zweijähriges Mädchen besucht, die mit ihrer Familie auf der Straße lebt. Sie haben dort seit vielen Jahren ihren festen Wohnsitz. Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten, konnte ich schließlich zu dem Mädchen durchdringen und herzlich mit ihr lachen. Wir erklärten der Familie unsere Behandlungsansätze und deren Bedeutung für die Entwicklung ihrer Tochter.

Es ist sehr schwierig zu manchen Angehörigen durchzudringen. Oft sind sie nicht wie verabredet daheim anzutreffen, oder erscheinen nicht zum vereinbarten Termin bei IMCARES.

Die Verhältnisse, aus denen die Kinder stammen, sind wirklich schockierend. Wenn wir sagen, wir besuchen dieses oder jenes Kind in ihrem Haus, dann verbirgt sich dahinter mit etwas Glück eine etwa vier Quadratmeter große Fläche, die von einer Plane überdacht ist. Mindestens vier Familienmitglieder leben hier mit ihrem gesamten Hausrat. Die Kinder sind oft allein und schutzlos, während die Eltern den Lebensunterhalt einbringen müssen.

Umso schöner ist es dann, ein Kinderlachen zu sehen und Fortschritte zu erleben, die vielleicht im Kleinen anfangen, aber langfristig einen großen Unterschied für das Kinderleben machen können.

 

Rebekka

 

 

Die Kunst des Wartens

Heute ist der dritte November. Ich kann es noch immer kaum glauben, tatsächlich wieder in Mumbai zu sein.

 

Hier folgt ein kurzer Rückblick in die vergangenen, sehr turbulenten 48 Stunden.

Am 1.11. bin ich morgens nach Frankfurt aufgebrochen, um am Abend meinen Flug zuerst nach London und dann nach Mumbai anzutreten. Am Tag zuvor hatte ich mir blöder Weise den Fuß umgeknickt, was für’s Gepäcktragen nicht sehr hilfreich war. So humpelte ich von Bahnsteig zu Bahnsteig und schließlich durch den Flughafen, wo mir sogar ein Rollstuhlservice angeboten wurde. Nach kurzem Überlegen lehnte ich allerdings ab, frei nach dem Motto „selbst ist die Frau“.

 

Ich verbrachte die folgenden sieben Stunden am Flughafen, bis ich endlich einchecken, die Sicherheitskontrolle passieren und nun auf das Boarding warten durfte.

Ja, der Start in diese Reise wurde von dem Wörtchen „Warten“ geprägt.

Gegen Abend hatte sich ein dichter Nebel sowohl über Frankfurt als auch über London gelegt, wodurch die Starterlaubnis immer wieder hinausgezögert wurde.

Bald war klar, dass ich meinen Anschlussflug nach Mumbai nicht schaffen würde. Also wartete ich geduldig in einer Menge von Mitbetroffenen auf eine Lösung unserer Anliegen. Meine Lösung sah folgendermaßen aus:

Mein Flug wurde auf den Folgetag umgebucht, sodass ich erst am 3.11. in Mumbai ankommen sollte. Das ist auch mal ein Erlebnis – Neun Stunden am Flughafen verbringen, um ihn dann wieder zu Fuß verlassen. Positiv an der ganzen Situation war allerdings, dass ich ein Hotelzimmer inklusive Abendessen und Frühstück und schlussendlich einen Direktflug bekam. All das kam auch meinem verstauchten Fuß sehr entgegen.

Zwölf Stunden später als geplant kam ich schließlich in Mumbai an. Nun gab es nur noch zwei Hürden: die Einreise und mein Koffer. Ersteres klappte ohne Probleme (was aus Erfahrung nicht selbstverständlich ist). Ob mein Koffer mitgekommen und nicht doch in London gelandet war, bezweifelte ich etwas. Nach sehr langem warten am Band, hatte ich schon die Hoffnung aufgegeben. Eher zufällig streifte mein Blick einen Koffer. Ich dachte noch „ach der sieht fast aus wie meiner, schön wärs“, als ich plötzlich das neonfarbene Band am Griff entdeckte. „Oh, das ist ja sogar meiner!“ Unglaublich, dass das geklappt hat!

 

Endlich den Flughafen verlassend, entdeckte ich zum Glück sofort meine Leute unter den Massen von Indern, die alle irgendjemanden abholen wollten. Die Wiedersehensfreude war riesig, sodass alle Strapazen schnell vergessen waren.

 

„Daheim“ angekommen lief mir sogleich Dinesh über den Weg.

Dinesh ist im Kinderdorf in Paud aufgewachsen. Er hat dieses Jahr seine 10. Klasse beendet. Ich war sehr überrascht ihn hier anzutreffen. Da erzählte er mir, dass er nun in Mumbai im YMCA-Hotel eine Ausbildung zum Koch und Bäcker mache. Das freut mich unglaublich! Was für eine Möglichkeit für ein Kind, das aus elenden Verhältnissen zuerst in einem familiären Umfeld heranwachsen durfte und nun sogar eine gute Ausbildung genießt.

 

Für die nächsten 4-5 Tage werden Timothy und ich einen Strategieplan für das neue Projekt Ankur erstellen, um einerseits Behandlungspläne, Angehörigenberatung und Mitarbeitertraining zu organisieren und durchzuführen und andererseits mit potentiellen Kooperationspartnern in den entsprechenden Fachbereichen in Kontakt zu treten.

 

Ich freue mich auf den Ideenaustausch und das Ergebnis am Ende der Planungstage. Wir hoffen einige Physio- und Ergotherapeuten zu gewinnen, einmal pro Woche ihre Fachkompetenz ehrenamtlich einzubringen.

 

Rebekka