Mittwoch war ein langer Tag. Um 9 Uhr verteilte sich das Team auf drei Taxis und fuhr zur Mahim Junction, einem Durchgangsbahnhof am Rande von Mahim, einem Slum angrenzend an Dharavi, wiederum ein Slum und bis vor kurzem das größte in Asien. Ich war bereits zweimal hier. Über eine Fußgängerbrücke, die über den Schienen verläuft erreicht man diesen Ort.
Von oben aus kann man schon ganz gut abschätzen was einen erwartet: Enge Gassen, die zwischen winzien, Lego-artig ineinander verschachtelten Hütten verlaufen. Gepaart mit Müll, Unrat und diversen Kleintieren ergibt das einen Lebensraum, den man sich unter keinen Umständen wünscht. Und ja, hier leben Menschen. Nach dem Verlassen der Brücke betritt man zur rechten einen Sportplatz, der bis an eine alte Lagerhalle reicht. Der Mauerdurchbruch ist der Eingang zum Slum.
Mitten in diesem Slum betreibt IMCARES ein sogenanntes Day Care Center. Zwischen 9 und 13 Uhr gibt es hier eine Betreuung von Kindern aus dem Slum. Diese sind zwischen 3 und 5 Jahre alt. Die Pädagogin der Organisation studiert mit ihnen einfache Sprechverse ein, singt mit ihnen und bringt ihnen Bewegungslieder bei. Sie lernen neue Worte auch auf Englisch, wie Gemüsesorten oder Tiernamen – das alles würde fehlen, wenn ihre Eltern sie einfach daheim ließen, während sie arbeiten.
Wir als Team haben Lieder dabei gehabt, die wir mit den Kindern einstudiert haben. Da ist zum Beispiel das Lied von Gott, der stärker ist als Superman, oder das irre Bewegungslied „Father Abraham“ – niedrigschwellige Stücke zum schnellen Mitmachen.
Nachdem ausgelassenem Spielen mit den Kindern gab es Mittagessen, oder einfach nur Essen, da dies für viele der Kinder häufig die einzige Mahlzeit am Tag ist. Es gibt Reis mit Dal, einer Art dünner Gemüsesuppe mit Kräutern und indischen Gewürzen – nichts besonderes, aber dafür ausreichend und sattmachend. Als Nachspeise gibt es eine kleine Banane. Wir durften das Essen servieren. Viele der Kinder konnten bereits mit der rechten Hand essen. Besteck gibt es keines! Die ganz kleinen werden gefüttert. Einige aus dem Team durften auch dabei behilflich sein.
Am Nachmittag gab es dann ein Medical Camp im Day Care Center. Ein pensionierter Arzt, der für IMCARES ehrenamtlich tätig ist, behandelt Kinder und Erwachsene. Viele Mütter kommen mit ihren Kindern. Unter ihnen ist auch Bushan, der von Geburt an körperlich und auch zum Teil geistig behindert ist. Er war eines der ersten Kinder, die im Rahmen des Ankur-Projekts gefunden wurden. Behinderte Kinder haben in Indien häufig keinen Stellenwert in der Gesellschaft. Viele haben keinen richtigen Namen und werden nur bei der Bezeichnung ihrer Behinderung gerufen. IMCARES kümmert sich auch hier und berät Eltern im Umgang mit ihren Kindern.
Raju, ein langjähriger Mitarbeiter von IMCARES, der selbst in Dharavi wohnt, erzählte mir dass in diesem Teil des Slums ca. 10.000 Menschen in ca. 2.000 Hütten wohnen. Jede Hütte hat eine Grundfläche von 6×10 Fuß, also ca. 5,5 Quadratmeter. Für diese Fläche wird eine monatliche Kaltmiete von 4.000 Rupien (ca. 53 Euro) fällig. Das ergibt einen Quadratmeterpreis von umgerechnet 9,70 Euro. Man stelle sich also vor, man arbeitet als Geringverdiener ohne Mindestlohnniveau, um davon eine Wohnung zu bezahlen, die nicht größer ist als eine Besenkammer – und das zu einem sehr hohen Preis. Zum Vergleich: Ich bezahle daheim in Bamberg 6,30 Euro pro Quadratmeter!
Weiter zu Dharavi: Das ist ein Slum, der zu 99 Prozent muslimisch ist und von einem Drug Lord beherrscht wird. Viele Minigewerbe sind hier angesiedelt. Ob Dienstleister wie Friseure und Fahrradreparaturen oder Produzenten von Backwaren oder Lederprodukten – man findet hier einfach alles.
Raju hat uns in eine Bäckerei geführt, wo in Akkordarbeit und bei einer abartigen Hitze vier Mitarbeiter die immer gleichen Cracker formten und auf dem Blech verteilten.
Gleich nebenan wurden Reisekoffer und Brillenetuis gefertigt. Wieder ein paar Meter weiter wurde verschieden farbiger Plastikschrott sortiert und geschreddert, um an Firmen weiterverkauft zu werden. Dabei ist es immer stickig und stinkt. Gleich da, wo gearbeitet wird wohnt man auch und wo man wohnt, da lebt man auch. Dieses Leben interessiert zunehmend auch Touristen, die nicht glauben können, dass sich hier echtes Leben abspielt.